Sind alle Kinder Verbrecher?

Jugendkriminalität ist immer ein dankbares Thema. Es eignet sich hervorragend, um gerade bei älteren Mitmenschen den „ich habe es ja schon immer gesagt"-Reflex auszulösen. Diesen Reflex hat auch der alte und (leider) neue Ministerpräsident von Hessen gnadenlos ausnutzen wollen.
Angefacht von den Übergriffen von Jugendlichen auf einen Rentner in der Münchner U-Bahn wurde, übrigens nicht zum ersten Mal, eine Verschärfung des Jugendstrafrechts, die Einführung sogenannter Erziehungscamps und weitere Maßnahmen ohne Nährwert gefordert. Dabei müssten es doch eigentlich gerade Ministerpräsidenten besser wissen. Immerhin kann man erwarten, dass sie wissen, wie die polizeiliche Kriminalstatistik zu lesen ist, oder zumindest jemanden beschäftigen, der es weiß.
Zunächst einmal ist zu beachten, dass die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) als Grundlage zur Beurteilung eines tatsächlichen Vorliegens von Straftaten denkbar ungeeignet ist. Dies folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip. Denn die Feststellung, ob eine Straftat vorliegt oder nicht, obliegt dem Gericht. Aber mit dieser Frage beschäftigt sich die PKS gerade nicht, vielmehr werden in ihr Tatverdächtige erfasst, von denen bei weitem nicht alle auch Täter sind. Aber selbst wenn man unterstellen wollte, dass der Tatverdacht und der Täter dasselbe wäre – was schon ziemlich mutig an der Sache vorbei ist – gibt die PKS keinen Anlass, nach einer schärferen Bestrafung zu rufen.
Bis 1998 stieg die Zahl der tatverdächtigen Jugendlichen und Heranwachsenden nach der Polizeilichen Kriminalstatistik deutlich an. 300.000 Tatverdächtige zwischen 14 und 18 Jahren wurden damals registriert sowie rund 240.000 Heranwachsende zwischen 18 und 21 Jahren und 150.000 Kinder. Ende 2006 war die Zahl der tatverdächtigen Jugendlichen auf knapp 280.000 gesunken, bei den Kindern unter 14 Jahren um ein Drittel auf 100.000. Bei den Heranwachsenden gab es kaum Veränderungen.
Auch die Behauptung, Jugendliche mit Migrationshintergrund wären überproportional häufig Täter von Straftaten, entbehrt der Grundlage. Die PKS unterscheidet nach Deutschen und Ausländern. Ein Vergleich mit der deutschen Bevölkerung bleibt aber schwierig. Zum Beispiel waren 2005 22,5 Prozent aller Tatverdächtigen keine Deutschen. Der Ausländeranteil in Deutschland liegt bei 8,8 Prozent (und der Anteil mit Migrationshintergrund insgesamt bei 18 Prozent; Hinzufügung SPD Alfter). Zu diesem Anteil werden allerdings Touristen und Illegale nicht gezählt, die in der Tatverdächtigenstatistik jedoch auftauchen. Ein Vergleich wird dadurch verfälscht. Dazu kommt etwa, dass hier lebende Ausländer häufiger in Städten wohnen und jünger sind – alles Faktoren, die auch bei deutschen Bürgern die Gefahr, kriminell zu werden, statistisch gesehen erhöhen. Der soziale Hintergrund ist ein entscheidendes Kriterium für die Frage einer kriminellen Karriere. Dabei kann der Migrationshintergrund eine Rolle spielen, aber allenfalls eine untergeordnete.
Viel entscheidender ist, dass Jugendliche, denen keine Perspektive geboten wird, wahrscheinlicher in die Kriminalität abrutschen als solche mit Perspektiven. Wenn also ein Ministerpräsident auf der einen Seite die Mittel der Jugendarbeit kürzt, auf der anderen Seite jedoch tatverdächtige Jugendliche am liebsten aufs Schafott führen möchte, ist dies in gefährlicher Weise verantwortungslos.
(Christian Aÿ)